Dijon veröffentlicht „Baby“: R&B zwischen Chaos, Intimität und experimenteller Freiheit
Mit „Absolutely“ legte Dijon 2021 ein Debüt vor, das intime Wohnzimmer-Atmosphäre mit musikalischer Radikalität verband. Sein Nachfolger „Baby“ erweitert diesen Ansatz ins Extreme. Wo „Absolutely“ noch nach einer Session am Küchentisch klang, entfaltet „Baby“ von Dijon ganze Räume, die sich stetig wandeln – von warmem Sonnenlicht bis zu grellem Neon. Überraschend ohne Singles veröffentlicht, markiert das Album eine konsequente Weiterentwicklung.
Dijon x Baby – Fragmentierte Intimität und das Thema Familie
Ein zentrales Thema ist Dijons neues Leben als Vater. Textfragmente erzählen von Nähe, Sex, Chaos, Kindern und einer Liebe, die Unsicherheiten auslöscht. Doch die Botschaften sind selten klar, vielmehr tauchen sie in verfremdeten Soundflächen auf. Reverb, Delay und Verzerrung machen jede Zeile zum Echo, jede Gitarre zum gebrochenen Spiegelbild ihrer selbst. Dadurch klingt das Private gleichzeitig nah und entrückt.
Klangästhetik zwischen Soul, Noise und Collage
„Baby“ wirkt wie eine Collage: Sounds stoßen aufeinander, brechen ab, lösen sich auf. Songs wie „HIGHER!“ stolpern über eigene Takte, während „FIRE!“ in übersteuerten Frequenzen fast auseinanderreißt. Akustische Elemente wie die Gitarre des Titeltracks werden zerschnitten und neu zusammengesetzt. Dadurch entsteht der Eindruck, man höre die Musik direkt aus dem vibrierenden Lautsprecher heraus. Dijon wählt absichtlich Fehler als Ästhetik – ein Gegenentwurf zur klinischen Präzision moderner R&B-Produktionen.
Ein Netzwerk von Einflüssen und Gästen
Die Referenzen sind vielfältig: Frank Ocean, Bilal, D’Angelo, die Soulquarians, Bon Iver und natürlich Prince. Vor allem jener Prince, der „The Ballad of Dorothy Parker“ auf defektem Mischpult aufnahm – ein Track, der wie beschädigt wirkt und gerade deshalb faszinierend bleibt. Auf „Baby“ finden sich außerdem musikalische Beiträge von Größen wie Pino Palladino, Tobias Jesso Jr. oder Justin Vernon. Mit an Bord sind auch die bewährten Weggefährten Andrew Sarlo, Henry Kwapis und Mk.gee, die schon „Absolutely“ geprägt hatten.
Dijon x Baby – Highlights im Wechselspiel
Trotz aller Brüche blitzen zugänglichere Momente auf. „Yamaha“ schimmert beinahe klassisch, fast wie ein Single-Kandidat. Der Abschluss „Kindalove“ öffnet eine helle, luftige Klangwelt, nur um am Ende in endlosem Hall zu versinken. Diese Dualität zieht sich durch das gesamte Album: zwischen Verletzlichkeit und Übersteuerung, Nähe und Distanz.
Kritikerlob und Resonanz
Die Resonanz war überwältigend. Pitchfork vergab 9.0 Punkte, Rolling Stone 4,5 von 5 Sternen, Paste gar die Höchstwertung. Fast alle Reviews betonen den experimentellen Charakter, die postmoderne Fragmentierung und den Mut zur Unfertigkeit. Auf Metacritic steht „Baby“ aktuell bei 93 Punkten – ein klarer Hinweis auf universelle Anerkennung.
Dijon als Gegenwart und Zukunft von R&B
Dijon ist kein Künstler, der sich in klare Schubladen pressen lässt. Seine Songs sind weniger klassische Stücke als Prozesse – sie fließen, zerfallen, formieren sich neu. Damit führt er R&B an einen Punkt, an dem Fehler zu Wahrheit werden. „Baby“ ist ein Album, das man nicht nur hört, sondern erlebt. Es fordert Geduld, belohnt aber mit einer Intensität, die lange nachhallt.