Leselounge Kiel – Erste Eindrücke

Der Abend gestern war wirklich nett. Herr Paulsen gab zwei sehr beeindruckende Geschichten zum Besten, die er wieder so vortug, wie nur ein Paulsen es kann. Ich war erstaunlich entspannt vor meinem Auftritt, was eigentlich ein eher schlechtes Zeichen ist. Nach Begutachtung des Videomateriales kann ich aber sagen: lief gut! Auch wenn Herr Paulsen und ich es bislang nicht gewohnt waren, ohne Tisch zu lesen. Wir haben beschlossen, den Tisch ab sofort in dem Künstlervertrag entsprechenden Vereinbarungen als Voraussetzung aufnehmen zu lassen. Und Stuhl statt Couch. Was Teile des Publikums betrifft: An sich schätze ich es, wenn es leise ist und wenn aufmerksam gelauscht wird. An den richtigen Stellen kann es aber ruhig gerne auch mal etwas lauter werden. Aber gut, unsere Schuld. Hätten nochmal darauf hinweisen sollen, dass Weblogs auch ein Stück weit Rock’n’Roll sind. Einen Film (a.k.a. ‚Video-Podcast‘) zur Lesung mit einigen Ausschnitten aus den vorgetragenen Texten von Paulsen und mir wird es zeitnah geben. Von dieser Stelle aus auch nochmal ein großes Dankeschön an Daniela für die hervorragende Moderation und an das Leselounge-Team für die herzliche Betreuung!

Was die anschließende Diskussion betrifft, möchte ich an dieser Stelle nur einen alles erklärenden Kommentar von Sascha Lobo zitieren. Der antwortete nämlich auf den einstigen Vorwurf von Stefan Kornelius, dem Außenpolitik-Chef der „Süddeutschen Zeitung”, das Internet sei eine „Seuche“, mit einem offenen Brief aus der heutigen Zeit an sich selbst, zurück im Jahre 1999. Als es das diabolische Web 2.0 noch nicht gab:

Offener Brief an mich selbst mit 24.

Lieber Sascha im Jahr 1999, ich schreibe Dir aus der Zukunft und ich bin Du. Das hier hat nichts mit Fluxkompensatoren zu tun, sondern mit Kultur und Zivilisation. Ich könnte Dich mit dem Traubenzucker des Lebens, Geld, verwöhnen, indem ich Dir ein paar Lottozahlen von 2001 raussuche, aber ich möchte nicht Deine kommenden Erfahrungen verzerren.

Du gehst überall herum und erzählst, wie dämlich Du Computer findest, sie würden die Menschen vereinsamen lassen, sie würden unpersönlich sein, ein toter Bildschirm könne niemals ein lebendiges Buch ersetzen und so fort. Bitte lass’ das bleiben, Du machst Dich damit total zum Kornelius, wie wir in der Zukunft sagen.

Es ist nämlich so, dass schon immer und auch für immer zur Kultur die Technik gehört. Und darüber hinaus es die stark unterschätzte Kulturtechnik gibt. Gehen wir ruhig zurück in eine Zeit, die die Bronzezeit genannt wird und verharren wir einen Moment allein beim Namen; er ist symptomatisch für Deine Problematik, lieber Sascha. Kurz vorher war noch Steinzeit, jetzt Bronzezeit, wo war der Unterschied? Er lag in der Technik der Metallherstellung und – das Entscheidende, pass’ jetzt gut auf! – in der Anwendung, der Schmiedetechnik. War die Bronzezeit ein Fortschritt, wo doch auch (und vor allem) Schwerter aus Metall hergestellt wurden und kaum Pflugscharen und nur sehr wenige Designtürklinken? Das ist eine rhetorische Frage, bitte beantworte sie nicht.

Dieses an den Haaren herbeigezogene Beispiel zeigt Dir, Sascha, dass sich die Kultur, der Sinn des Lebens nebenbei gesagt, scheidet in die Kulturtechnik und die Inhalte. Solltest Du sie je wieder verwechseln, diese beiden Zwillingsschwestern, so darfst Du nur noch Spinettmusik von Wachstrommeln hören und musst fortan ein Handy mit Dieselantrieb benutzen und SMS in Fraktur schicken – mit anderen Worten, Du wirst zum Vollkornelius und taumelst besinnungslos zwischen den Symptomen, Techniken, Ursachen, Wirkungen und Blüten der Neuzeit umher, mal hierdran riechend, mal dortdrauf spuckend, auf jeden Fall aber distanzlos die technische Oberfläche für das Mass aller Dinge haltend.

Nun, Sascha, Du hörst die leichte Enttäuschung zwischen meinen Zeilen, die zum Glück in Deinem Fall noch nicht zur Verbitterung geworden ist. Trotzdem muss ich Dir ein schweres Programm auferlegen, Dich dringlich bitten, es wahrzunehmen; ein Computer ist ein Gerät, eine Million Computer sind eine Kultur und dazwischen ist ein Ding, das nennt man Internet. Du hörstest davon und kümmertest Dich nicht weiter. Ein Fehler, vergleichbar mit dem Fehler der Kalligraphen, die die Schreibmaschine als Eintagsfliege abtaten.

Nun gehe hin und gründe im nächsten Jahr weitgehend ahnungslos eine Internetagentur, die immerhin den Effekt haben wird, dass Du mitten in die Kulturtechnik des Digitalen gestossen wirst und über Nacht lernen musst, wie man über Javaprojekte redet. Und weisst Du was, Sascha, Du altkluges Stück? Das Internet ist nicht nachtragend, es hilft Dir dabei, Dein Wissensmanko, Dein Kulturmanko aufzuholen. Das Internet ist die beste Erfindung überhaupt. Ohne ein verstümmelndes “seit”.

Aber: Es ist eine Erfindung. Eine Kulturtechnik, nicht ein Inhalt. Wer es verdammt, weil er etwas Schlechtes darin gefunden hat, wird auch Schall verbieten wollen, wenn es donnert. Und nun gehe hin und verbreite die Kunde des guten Internets, kämpfe dafür und das heisst vor allem, kämpfe gegen die Ansicht, dass früher alles besser war. Denn die Nostalgiker, diese Menschen, die statt ihrer Erinnerung eine Verkläranlage im Kopf haben, die neigen dazu, dass Fortschritt in der Kulturtechnik schlecht ist. Sie vergessen, dass das Alte, das sie verehren, einst neu und durchaus revolutionär war. Aber das Neue ist ein Begriff, der nur in der Gegenwart benutzt werden darf. Das Neue ist Selbstzweck, aber zu recht. Alles wirklich Neue ist zunächst wirklich gut, ausser es ist wirklich schlecht.

Wer behauptet, Fortschritt wäre doof, der soll einen beliebigen Tag in den letzten 2000 Jahren sagen, an den er die Menschheit zurückverfrachten möchte. Er wird verstummen müssen. So, Sascha, nun gehe hin und labere die Menschen voll. Und wenn Du einen Kornelius triffst, dann schaue ihn streng an, ermahne ihn, kläre ihn aber auch auf und dann streichle ihm mitleidig über den Kopf. Vielleicht hatte er länger keinen GV oder eine unglückliche Kindheit. Oder er hat irgendeine Seuche.
(Original)

Kommentare

23 Antworten zu “Leselounge Kiel – Erste Eindrücke”

  1. goetzilla sagt:

    Jetzt haben Sie mich aber verwirrt, Herr Winkeleisen. Der Brief wurde nicht 1999 verfasst, sondern 2007. Aber Recht hat er, der Sascha …

  2. bosch sagt:

    Wie es aussieht, haben wir richtig was verpasst. Bin schon gepsannt auf den Videomitschnitt.

    Und: Lesen ohne Tisch ist richtiger Mist. Irgendwo muss man doch gescheit sein Getränk Holsten abstellen können.

  3. MC Winkel sagt:

    @ goetzilla: Sorry, ich hatte es etwas dusselig formuliert. Hoffe, so passt es nun.
    @ bosch: Richtig!

  4. Herr Paulsen sagt:

    Es hat mich wirklich umgehauen wie stark sich viele Menschen vor dem Internet, ja, ängstigen. Was da gestern in der Diskussion aufkam, war im Tenor wenig freundlich, steigerte sich im Verlauf und die Wortbeiträge wurden regelrecht agressiv. Der Ruf nach Regulierung wurde laut, die Demokratie als gefährdet in Frage gestellt und alles führte unausweichlich zu Pornoseiten und Nazi-Netzwerken. Es gibt kein Paradies ohne Schlange, das schienen einige Diskussionsteilnehmer nicht zu verstehen. Auch die verächtlich hingeworfene Einschätzung des Literaturhauschefs Dr. Wolfgang Sandfuchs, Blogs seien allesamt überflüssige Selbstbeweihräucherungs-Tagebücher, zeugten eher von Unwissenheit bezüglich der Thematik. Von den Chancen des Web 2.0 vermochten wir die Anwesenden nur zum Teil zu überzeugen. Es ist wichtig kritisch zu sein, es gehört aber auch dazu, die Augen vor positiven, neuen Entwicklungen nicht zu verschließen.

  5. Giza sagt:

    Meine Theorie: „Echte“ Autoren sehen Bloggs eigentlich als Konkurrenz. Sie sind sogar fast ein bißchen beleidigt. Immerhin mußten sie erst studieren und sich dann in Verlagen hocharbeiten um am Ende über den Dackelzüchter Verein aus dem Nachbarort berichten zu dürfen. Dank Web2.0 kann nun jeder ein Autor werden, sich eigene Themen aussuchen und sogar einen gewissen Grad an Berühmtheit erlangen.

    Just my two cents.

    GIZZLE

  6. Die Muräne sagt:

    „Das ist eine rhetorische Frage, bitte beantworte sie nicht“ – Eine unglaublich coole Finte. Die muss ich mir wirklich merken!

  7. Schnitzel sagt:

    Man hätte auch einfach Homer Simpson zitieren können:

    „Das Internet? Gibts diesen Blödsinn immer noch?“

  8. Daniela sagt:

    Hey!

    Dieser Mann, der meinte, eine politische Diskussion führen zu müssen, war ganz allein auf weiter Flur …. es haben mich danach noch zahlreiche Besucher angesprochen, die diesem Beitragenden am liebsten den Mund verboten hätten, weil sie von Allgemeinplätzen genervt sind. Von einer Dame kam sogar ein: „Der würde wohl sogar die Erfindung von Papier diskutieren wollen, weil man darauf kinderpornografische Inhalte drucken könnte“ …

    Insgesamt hat sich das Publikum danach noch sehr geöffnet und ich war sehr überrascht, wieviele Leute tatsächlich auch nur wegen der Ankündigung „Blogger“ in KN und Co. den Weg zu uns gefunden haben und tatsächlich nach mehr rufen.

  9. MC Winkel sagt:

    Naja, so ganz alleine war der Mann leider nicht, Daniela. Der Herr mit der 80er Frisur neben ihm hatte ähnliche Bedenken. Sind halt leider oft Einzelpersonen mit verstaubten Ansichten, die ganze Abende irgendwie … prägen können.

    Aber wie Du schon sagtest: Das Gros war „openmindedter“, somit war es mir tatsächlich eine Ehre + ein vergnpgen bei Euch!

  10. creezy sagt:

    Der Abend gestern war wirklich nett.

    Das klingt naja-like ;-) Aber Bloggerlesung mit anschließender Diskussion hat was, dass solche Typen, wie der/die oben Beschriebenen, auftauchen und eine Meinung haben, gehört dazu, sonst wäre es ja öde. Denen muß man eben handfeste Gegenargumente liefern – natürlich wird es immer Kandidaten geben, die auf dem Ohr grundsätzlich taub sind.

    Selbstverständlich macht es das Netz leichter in einem gewissen Sinn Bullshit zu verzapfen, wobei ich persönlich der Meinung bin, dass das Netz es einer breiten Masse einfach nur deutlich macht wieviel kranke Menschen auf diesem Planeten unterwegs sind. Mit Kinderpornografie (ist ja das beliebteste Argument) wurde auch schon zu Zeiten ohne Internet weltweit im großen Stil gehandelt. Es ist aber auch im Netz zunehmend leichter en masse seiner Vergehen überführt zu werden. Na ja, gewaltiges Thema. Wer’s Internet nicht mag, mag es eben nicht …

  11. dleenes sagt:

    moin

    das muss unbedingt wiederholt werden, ich zieh am 3.3.07 nach Kiel wegen Studium.Möchte dann gerne in den Genuss einer solchen Vorlesung kommen.

  12. Andre sagt:

    Der erste Videomitschnitt von gestern ist mit freundlicher Genehmigung von und mit Herrn Paulsen online bei UntenAmHafen!

  13. Liz sagt:

    Ick hab an euch jedacht.

  14. oLiGaRcH sagt:

    Der Paulsen ist fit, charmanter, aber ich werd mír keinen Google-Account zulegen, um das drüben direkt zu kommentieren. Die Offenheit für jegliche Kommentatoren hier auf whudat möchte ich nochmal lobend herausstellen, fällt im Vergleich zu vielen anderen Blogs auf, seien es Twoday-basierte oder ähnliches.

    In Zukunft an dieser Stelle bitte lieber wieder Ihre eigenen Worte als Sascha-Lobo-Ergüsse. Ich weiß, ich weiß, Blogger-Koryphäe und so… trotzdem, bei dem Brief hat ihm meiner Meinung nach ein Furz quergesessen, wenn der Aufhänger echt nur das Kurzstatement mit der „Seuche Internet“ war.

    Nicht dass es eines Tages heißt: „Mensch, da hast Du Dir aber einen Lobo geleistet…“ (SCNR).

    Peace out!

  15. oLiGaRcH sagt:

    da fehlt „Auftritt“ hinter „charmanter“. Sorry.

  16. Opa sagt:

    Schade, daß ich leicht unpäßlich war. Dem 80er Frisierten und seinem Nachbarn hätte ich gerne einen vorgehustet :-)

  17. netlektorin sagt:

    … und hier gibt’s ein kleines Foto von gestern … http://netlektorin.twoday.net/stories/3359061/

  18. Rociel sagt:

    @ oLiGaRcH, man kann sowohl bei twoday.net als auch bei blogspot.com kommentieren, ohne einen Account zu haben, daher verstehe ich die Formulierung „Offenheit für jegliche Kommentatoren“ nicht. (Ich zumindest hab’s noch nicht erlebt, dass einer „drüben“ weggedisst wurde, nur weil ein Kommentar von einem nicht-Angemeldetem kam.) Und Namen fälschen kann man hier genauso wie sonstwo.

  19. oLiGaRcH sagt:

    @ Rociel : Oh, dann habe ich das bislang nicht geblickt. Stelle mir die Merkbefreiung in diesem Punkt gleich selbst aus. Danke für die Information.

    P.S.: Kleiner Lesetipp auf SPIEGEL Online in die Runde…

    US-Golfprofi klagt wegen diffamierendem Wikipedia-Eintrag
    http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,468274,00.html

  20. oLiGaRcH sagt:

    (Link wird scheinbar erst freigegeben? Ich hatte ihn angefügt)

  21. classless sagt:

    Eindrücke Hondo Dub.

    ich aber
    ich an dieser Stelle
    Ich war erstaunlich
    war wirklich

    dazwischen ist ein Ding, symptomatisch für Deine Problematik
    wenn es leise ist, ein Stück weit Rock’n’Roll
    nur einen alles erklärenden Kommentar
    statt ihrer Erinnerung an den Haaren herbeigezogene Seuche.
    bitte beantworte sie nicht
    außer es ist wirklich schlecht.

    ich aber
    Ich war erstaunlich
    schätze
    ich es

  22. WESTCOAST23 sagt:

    Was seid ihr für Klappstühle,ihr habt wohl alle doch zuviel Zeit am PC verbracht ihr Bitches

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