Irre Wende im Südkaukasus: Armenien kehrt Russland den Rücken
Was sich derzeit im Südkaukasus abspielt, ist geopolitisch kaum zu überschätzen: Armenien, einer der treuesten Verbündeten Russlands in der postsowjetischen Welt, wendet sich mit rasender Geschwindigkeit dem Westen zu. Wo früher russische Einflusssphären dominierten, wehen heute EU-Fahnen vor dem Parlament in Jerewan, schulen französische Militärberater die armenische Armee, und US-Soldaten üben Seite an Seite mit armenischen Einheiten – nur wenige Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Irre Wende im Südkaukasus: Armenien kehrt Russland den Rücken.
Moskau schweigt. Die russischen Truppen vor Ort haben nicht die Kapazitäten, einzugreifen. Die Bilder aus Armenien sind symbolträchtig – und ein diplomatischer Albtraum für den Kreml.
Eine Allianz mit jahrhundertealter Geschichte
Die Beziehungen zwischen Russland und Armenien reichen tief in die Geschichte zurück. Schon im 18. Jahrhundert suchten Armenier Schutz vor osmanischer und persischer Verfolgung im russischen Zarenreich. Im 19. Jahrhundert wurden armenisch geprägte Gebiete durch den Vertrag von Turkmanchai offiziell Teil des russischen Reichs.
Beide Völker verband ihr christlicher Glaube, und in sowjetischer Zeit galt Armenien als verlässlicher Partner Moskaus. Armenische Loyalität traf auf russischen Schutz. In der Sowjetunion war Armenien vollständig in das Moskauer System integriert – wirtschaftlich, politisch und militärisch.
Russlands Rolle in den Berg-Karabach-Kriegen
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 änderte sich vieles – doch die Partnerschaft hielt. Russland unterstützte Armenien indirekt im ersten Krieg um Berg-Karabach gegen Aserbaidschan. Armenien konnte große Teile des umstrittenen Gebiets militärisch behaupten – unter Duldung Moskaus.
1992 trat Armenien dem von Russland geführten Verteidigungsbündnis OVKS bei. Ab 1995 stationierte Moskau eigene Truppen in Gjumri. Auch wirtschaftlich war das kleine Land stark abhängig: Russische Unternehmen dominierten Energie und Infrastruktur, Überweisungen von über zwei Millionen Armeniern in Russland machten einen bedeutenden Teil des armenischen BIP aus.
Der Balanceakt: Europa ja, Russland bleibt
Erst mit dem Machtantritt von Nikol Paschinjan im Jahr 2018, getragen von einer proeuropäischen Protestbewegung, verschob sich die politische Ausrichtung spürbar. Paschinjan versprach Reformen, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – alles westliche Werte.
Gleichzeitig betonte er, das Verteidigungsbündnis mit Russland beizubehalten. Es war ein diplomatischer Drahtseilakt: Modernisierung und europäische Integration auf der einen, Abhängigkeit von Moskau auf der anderen Seite.
Armenien kehrt Russland den Rücken – Der Vertrauensbruch im Krieg von 2020
Der Balanceakt scheiterte 2020, als Aserbaidschan – mit Unterstützung der Türkei und moderner Drohnentechnologie – eine großangelegte Offensive auf Berg-Karabach startete. Armenien verlor weite Teile des Gebiets innerhalb weniger Wochen.
Russland griff nur halbherzig ein, vermittelte am Ende einen Waffenstillstand und entsandte Friedenstruppen. Für viele Armenier fühlte sich das wie ein Verrat an. Der „Schutzpatron“ hatte versagt – ein Schock, der das Vertrauen in Russland nachhaltig erschütterte.
Der Ukraine-Krieg als Wendepunkt
Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022 wurde Moskau international zunehmend isoliert. Gleichzeitig wurde der Kreml innenpolitisch autoritärer und unberechenbarer. Armenien, historisch stets Spielball fremder Mächte, sah sich erneut zwischen den Fronten.
Der Westen rückte nun auch sicherheitspolitisch in den Fokus: Militärübungen mit US-Soldaten, Beratungen aus Frankreich, neue wirtschaftliche Abkommen mit der EU. Der Bruch war nicht mehr zu übersehen.
Der letzte Schlag: Der Krieg 2023
Im September 2023 griff Aserbaidschan erneut an – diesmal kurz, effizient und erfolgreich. Innerhalb von 24 Stunden kapitulierten die armenischen Truppen in Berg-Karabach. Rund 100.000 ethnische Armenier flohen nach Armenien. Die russischen Friedenstruppen? Zogen sich still zurück, ohne einzugreifen.
Noch gravierender: Als Armenien beim russisch dominierten OVKS-Bündnis offiziell um Hilfe bat, blieb diese aus. Nur einige Beobachter wurden entsandt. Die Botschaft war unmissverständlich: Auf Russland ist kein Verlass mehr.
Europa als neue Schutzmacht
Seitdem ist die Entwicklung rasant: Armenien hat den Internationalen Strafgerichtshof ratifiziert, was de facto einen Haftbefehl gegen Wladimir Putin beinhaltet. Die Regierung kündigte an, an keiner OVKS-Mission mehr teilzunehmen, russische Medien verlieren zunehmend Einfluss, und neue EU-Programme zur Wirtschaftsförderung wurden gestartet.
Armenien, lange Zeit Russlands loyalster Partner im Kaukasus, schlägt nun offen einen neuen Kurs ein – in Richtung Brüssel, Washington und Paris. Eine geopolitische Zäsur.
Fazit: Moskau verliert an Boden
Der Verlust Armeniens ist für Russland mehr als nur symbolisch. Er markiert den Rückzug Moskaus aus einer der strategisch wichtigsten Regionen der Welt. Für den Kreml bedeutet das nicht nur geopolitischen Machtverlust, sondern auch das Ende einer jahrhundertealten Vorstellung: Dass Russland die natürlichen Schutzmacht der christlich-orthodoxen Völker im Kaukasus sei.
Der Westen hat diese Lücke erkannt – und füllt sie mit Entschlossenheit. Armenien ist nicht länger der kleine Bruder Russlands, sondern auf dem Weg, ein selbstbewusster Partner Europas zu werden.
Irre Wende im Südkaukasus: Armenien kehrt Russland den Rücken
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[via Clever Camel]
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