Halb acht – acht Halbe (1)

Im September 1990 riss ich mir auf der Flucht vor Bandenmitgliedern der „Mad Butcher“ aus Kiel-Mettenhof die Außenbänder im linken Fuß. Mir ist die Flucht zwar gelungen, ein Blick auf den Knöchel am nächsten Morgen versprach jedoch nichts Positives – ich liess mich in die „Notfallklinik Jensen“ (den Kielern auch als „Schlachthof Jensen“ bekannt; mir damals leider noch nicht), wo man mir nach dem Röntgen mitteilte, an einer Operation nicht vorbeikommen zu würden. Man behielt mich direkt da – alles sehr ungünstig für mich.

Und das aus mehreren Gründen: Ungünstig war die Tatsache, erst vor wenigen Wochen mit der kaufmännischen Ausbildung begonnen zu haben und nun die für die Zukunft des Rechnungswesens wichtigsten Grundregeln in der Berufschule zu verpassen. Ungünstig war die zahnbehaarte Krankenschwester Elena, die mir aufgrund meines vorlauten Mundwerkes die allmorgendliche Thrombosespritze vorsätzlich direkt in den Bauchhöhlenstamm setzte. Ungünstig war die Absenz von Kabelfernsehen und Thermopenverglasung im Zimmer, welches orthogonal zum Zentralen Omnibus-Bahnhof lag. Ungünstig war mein eloquenter Mitbewohner Micha, welcher noch nicht einmal seine sächselnd neunmalschlaue Fresse halten konnte, während er in die Bettpfanne schiss. Am allerallerungünstigsten würde jedoch Rolf werden; ein besoffener Skinhead, der mir um drei Uhr Nachts als neuer und somit letzter Zimmermitbewohner vorgestellt wurde. Diagnose: Verdacht auf Nasenbein- und Fußbruch, man würde es am Folgetag genauer untersuchen. „Moin, ich bin lil‘ Winkelsen. Ich hoffe, deine Schmerzen sind nicht zu groß und du kannst gleich schlafen. Es ist ja doch schon recht spät!“. „Aldäaa wäaas? Halt! Die! Frässe!, Mann – ich kipp‘ dich gleich mit deinem Bett aus dem Fenster, du Judennase!“. Ich schlief beklommen ein und sehr unruhig.

Rolf beruhigte sich irgendwann, öffnete von uns Dreien am nächsten Morgen dennoch als Letzter die Augen. Bei all meiner vorurteilhaften Verachtung Rolf gegenüber; einen Vorteil hatte seine Anwesenheit: Micha hielt endlich einmal länger als 5 Minuten am Stück seine Schnauze. Als Rolf erwachte, präsentierte er sich im Gegensatz zum Vorabend als vergleichsweise freundlicher Mensch. Er schien sogar im Gegensatz zu Micha eine erträgliche Gemütsruhe vorweisen zu können, selbst sein Humor war akzeptabel. Gut, vielleicht verschwimmen einem sämtliche Sinne, wenn man zuvor 48 Stunden am Stück von egozentrischen Zungendreschern aus Pirna vollfabuliert wird, die trotz ärztlicher Krückennutzungs-Vollmacht in Aluschalen stuhlen. Aber bis auf die politische Einstellung, auf die man aufgrund seiner 20-Loch-Stahlkappen-Martens mit den weißen Schnürsenkeln, der hochgekrempelten Karotten-Edwin, der olivfarbene Bomberjacke und der – wie meine Großmutter zu sagen pflegte – sportlich flotten Kurzhaarfrisur Rückschlüsse ziehen konnte, schien er tatsächlich ein angenehmer Zeitgenosse zu sein.

Ich hörte damals ‚Please Hammer Don’t Hurt Em‘, MC Hammers Debüt-Album auf heavy rotation in meinem Kassettenrekorder. Ich vermutete zunächst, damit bei Rolf anecken zu würden. Schließlich würde der ganz bestimmt viel mehr für die Böhsen Onkelz (die damals ja noch rechts waren, dann links wurden. Dann kurz wieder rechts, schließlich links, an sich aber rechts waren. Nee, doch links.) und Störkraft schwärmen – aber selbst hier: eine Aufnahmebereitschaft, die beinahe in völlige Integration mündete („Geil, Winkelsen, mach nochmal ‚Can’t touch this‘ an!“). Für den Nachmittag hatten sich telefonisch seine Freunde angekündigt; ich war gespannt, was das für ein Gespann sein würde. Eigentlich konnte es nicht mehr schlimer werden, denn am Vormittag hatte ich das Vergnügen, Michas Familie kennenzulernen. Seither glaube ich übrigens, dass ganz Pirna in Aluschalen stuhlt.

[Fortsetzung folgt. Aber nicht morgen. Aus dieser Erfahrung werde ich eine unregelmäßig erscheinende „Serie“ machen; es gab einfach zu viele skurrile Vorkommnisse, die man nicht in einem Zweiteiler abtun kann. Und für morgen haltet schonmal Eure Digicams parat!]

Kommentare

29 Antworten zu “Halb acht – acht Halbe (1)”

  1. Solidglobe sagt:

    Hehe das Bänderriss Problem kenn ich nur alzu gut und auch ich bin unterm Messer gelandet weil ich mir einfach alles zerstört hab… Ich hatte aber mehr Glück, in meinem Zimmer war nur noch n BKA Beamter der sich im Dienst die Bänder gerissen hatte (beim Fussball Tournier :D). Der war Recht amüsant. Die Schwestern haben mich auch gehasst denk ich. Und Trombosespritzen sind Folterwerkzeuge, ganzer Bauch gelb und blau :(

  2. Bauchhöhlenstamm – *nachdenk* – Bauchhöhlenstamm??

  3. tobi sagt:

    Jaja, die Aluschalen. Die können gar nix. Bin selbst mal trotz verbot und einem Absaugeschlauch aus meinem Knie auf Klo gehumpelt. Nein, eigentlich gekrochen. Bevor ich eine Bettpfanne benutze wird Paris Hilton seriös.

  4. SirParker sagt:

    MC Winkel, der Crack-Dealer von Bloggershausen… erst anfixen und dann auf den zweiten Schuss warten lassen… Sauerei! ;)

  5. Thommy sagt:

    Jo Krankenhaus ist eine skuriele Angelegenheit. Mandeln entfernen oder ähnliche Faxen haben mir auch schon den ein oder anderen komischen Tag in solchen Gemäuern beschehrt. Aber eins ist klar. Den Gang aufs Klo nimmt mir keiner. Ich scheiß doch nicht in dem Zimmer in dem ich danach noch knacken will. Wo kommen wir denn da hin ;)

  6. westernworld sagt:

    das war jetzt auch genug neues aus dem enddarm für eine frühstückslektüre.

    ..kolostomie in der südsee unter palmen…

  7. MrRogers sagt:

    rechnungswesen hab ich nie gekonnt

  8. Zmivv sagt:

    @ ChliiTierChnübler: Truncus coeliacus.

    @ MC Winkel: Diese Beschreibung des Winkel’schen Krankenhausalltags erinnert mich an alle Siffstationen, auf denen ich bisher tätig war…
    Mehr davon, bitte.

  9. MC Winkel sagt:

    @ Solidglobe: Wann war denn das? Auch schon 17 Jahre her? Damals gab’s noch nen „echten“ Gips, 6 Wochen lang. Dann ewig lange Krankengymnastik.
    @ CTC: Na der Truncus coeliacus – den kennen sie doch?! :)
    @ tobi: Ich kam ein einziges mal nicht umher… aber dazu beim nächsten Teil von „Halb acht, acht Halbe“ mehr.
    @ SirParker: Nützt ja nix!
    @ Thommy: Am tag nach einer OP sieht man das schon anders, Thommy.
    @ westernworld: Das waren „Ideal“, oder?
    @ MrRogers: T-Konten-Rechnung? Überflüssiger Bullshit; kam ich nach den verpassten ersten Wochen nie mehr so richtig rein.
    @ Zmivv: Sind Sie sich sicher (Wow – einer Vierer-Alliteration! :))

  10. sub sagt:

    die schmerzen und schäden im und am körper können noch so groß sein, zu aluschalen sag ich immer nein. so, genug an reimen…

    digicam ist geladen und entsichert…

  11. Erdge Schoss sagt:

    Gute Güte, Herr Winkelsen,
    das droht ja ganz besonders appetitlich zu werden.

    Dessen unbenommen: Weswegen befanden Sie
    sich denn auf der Flucht vor den durchgeknallten
    Metzgersburschen?

    Gespannt
    Ihr Erdge Schoss

  12. steuertusse sagt:

    also mal ganz ehrlich egal wie scheiße es mir geht – in eine Aluschale würde ich never ever reinscheißen – sorry!

  13. Dennis sagt:

    Handelt es sich bei „Rolf“ etwa um den bekannten Kieler Rolf, der auch heute noch zur Kieler Woche beim Pernod-Stand „Kreuzberger Nächte“ zum besten gibt??

  14. KleinesF sagt:

    Zum Glück sind Sie ja in keiner Firma, wo man Grundkenntnisse im Rechnungswesen braucht.

  15. Ole sagt:

    Das Leben steckt doch immer wieder voller obskurer Abenteuer. Zumindest im Nachhinein hat man so köstliche Geschichten. Währenddessen verflucht man das eine oder andere auch schonmal. Einmal mehr grandioser Geschichten-Einstand.

  16. DerTim sagt:

    Ähnlich wie das werte Erdge Schoss wähne ich in dem Anfang der Geschichte ebenfalls enormes Potential für einen spannenden Bericht.

  17. […] MC Winkels weBlog» Blog Archive » Halb acht – acht Halbe (1) […]

  18. 500beine sagt:

    so ne leckere Bettpfanne mit zwiebeln angeröstet – könnt ich für sterben, muss ich aber nicht. hm. ist das jetzt ein kommentar? oder doch eher ein mittagsgruß. hallo MC. alte granate.

  19. Ole sagt:

    P.S.: Bohr den Finger ruhig in meine Wunde. „Und morgen haltet schonmal Eure Digitalkameras bereit:“ Wie gerne würde ich. Aber wer rechnet schon damit, dass ausgerechnet der Paketwagen, der meine reparierte Digicam transportiert, von Banditen überfallen und ausgeraubt wird? Und wieviele Paketwagen werden generell überfallen? Wie hoch mag die statistische Wahrscheinlichkeit sein? :)

  20. Wird das eine Werbe-Geschichte für Private Krankenversicherungen mit Chefarztbehandlung und Einzelzimmerzuschlag?

  21. Bateman sagt:

    Gibt es morgen einen „Rolf-look-a-like-Wettbewerb“? Hast’e schon lange nicht mehr.

  22. graipfruit sagt:

    während meiner (krankenhaus)zivi zeit zählte eine benutzte bettpfanne vor dem frühstück als hochgenuss. sei froh das bei dir kein harnkatheder gelegt wurde…

  23. westernworld sagt:

    herr winkelsen, was soll ich sagen, der kandidat hat eine april lawine rosa gummipunkte gewonnen. :)

  24. Mülli sagt:

    Alleinherrscher und Autogrammjäger: Thomas Gottschalk feiert sein 20-jähriges Jubiläum bei „Wetten, dass …?“. Seine Beinkleider waren gewohnt bunt, die Show hingegen farblos. Die Bilanz: Der König ist müde, aber ein Thronfolger nicht in Sicht.

    Hö?

    http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,509887,00.html

  25. Zmivv sagt:

    @ MC Winkel:
    Sicher, sicher. Ich freue mich auf mehr. Mich kann nichts mehr ekeln, ich habe schon alles gesehen ;)

  26. karotten-edwin! du liebe güte, das sind bilder aus schwärzesten jahren. hilfe! eine einzelzimmerzusatzversicherung ist doch so teuer heutzutage. nicht auszudenken, mal ins krankenhaus zu müssen und mit zwei solchen granaten in einem zimmer zu liegen. horror!

    mc. geht morgen auch mein neues handy? das kann auch knipsen, zwar mit wenig pixeln, aber immerhin. meine digicam ist gerade in reparatur.

  27. rl.green sagt:

    Aufgrund dieser Story sind Bilder in meinem Kopf entsanden, die ich nicht so schnell los werde, igitt. Zum Einschlafen bitte nur noch über groß,blond & gut gebaut berichten, ja? Ein amerikanischer Akzent wäre mir auch recht. Wir sind doch hier bei wünsch‘ Dir was?

  28. creezy sagt:

    Das ist ’ne ganz fiese Geschichte, weil in mir wieder die Panik hochkommt, dass ich mir zur Zeit keine Krankenhaus-1a-Sonderbehandlung-und-nur-alleine-im-Zimmer-Zusatzdoppeltunddreifach-Versicherung leisten kann.
    Ich wette, die Glatze hat später noch mit Dir immer ein Nachtgebet gesprochen, stimm’s?

  29. […] Kurze Zusammenfassung der Vorgeschichte: Ich kam 1990 aufgrund eines Bänderrisses im linken Fuß ins Krankenhaus, wo ich Micha, den ostdeutschen und sehr eloquenten Bettpfannenstuhler und Rolf, einen stadtbekannten Skinhead, kennenlernte. Es lief überaschend harmonisch, bis sich Rolfs Freunde ankündigten. [Selbst nochmal nachlesen] […]

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