Die Biggie Schütt Ballade

Andreas zog Ende der Achtziger in unsere Gegend. Bereits damals war mir klar, dass es Leben auf dem Mars geben muss. So ein Typ konnte einfach nicht von dieser Welt sein, nichtmal aus Merseburg. Seine 2-Zimmer-Wohnung war spärlichst möbliert. Im Schlafzimmer lag eine Matratze auf dem Boden, sein Kleiderschrank bestand aus einem Besenstiel, welcher auf der einen Seite in die Wand gedübelt und auf der anderen Seite auf einer Haushaltsleiter abgelegt wurde. Im Wohnzimmer hatte er zwei Campingsessel, einen fernbedienungslosen Farbfernseher und ein leeres Aquarium. GEZ zahlte er übrigens nicht, aber Marsianer sind da glaube ich eh befreit.

Andreas auffälligstes Merkmal war neben seiner Werner-Tättowierung auf dem Unterarm jedoch die Größe seines Kopfes. Ein mit Hefe gefüllter Medizinball war nichts dagegen, weshalb er von uns schnell den Namen Biggie bekam – was zu Zeiten vor Notorious BIG wirklich noch originell war, wie ich finde. Als Neuling in Kiel hatte Biggie noch keinen Anschluss gefunden. Er schwadronierte allabendlich um die Häuserblöcke und traf schließlich irgendwann auf uns. Wir fanden ihn zunächst alle recht skurril, doch warum sollte man einem Stadt-Neuling die Kontaktaufnahme verweigern; immerhin handelte es sich um einen Außerirdischen, was das lokale Ansehen unserer Truppe immens aufwerten würde. Außerdem hatte er stets die Taschen voller Kleingeld. Wortwörtlich. Von 10-Pfennig- bis 5-Mark-Stücken war alles in großem Umfang dabei. Er trug die weitesten Stoffhosen, die Woolworth herzugeben vermochte, nur um all sein Münzgeld adäquat unterzubringen. Selbst seine Jackentaschen waren prall gefüllt. Wenn Biggie sich zu uns auf den Weg machte, hörte es sich schon von Weitem so an, als würde der örtliche Xylophonfreunde e.V. einen Soundcheck veranstalten – im Zigarettenautomaten.

An den Wochenenden versammelten wir uns am nahegelegenen Teich, tranken ein bis zwei Stammgetränke und machten uns dann auf den Weg in die Stadt. Biggie war immer der Erste, der uns verliess. „Ich muss noch kurz arbeiten! Wir sehen uns dann später.“. Drogen schlossen wir aus, Biggie hielt nicht besonders viel von Rauschmitteln jenseits des Doppelkorns, welchen er gemischt in River-Cola-Flaschen ständig mit sich herumtrug. Da er niemals einen Führerschein machte (ich hielt die Absenz einer intakten Straßenverkehrsordnung auf dem Mars für den Beweggrund) fuhr er ausschließlich mit dem Taxi durch die Weltgeschichte, am 11. Mai sogar mit Handtuch. „Alles klar, Biggie. Dann um 1.00h vorm Far Out, nä?!“. Biggie kam niemals mit in die Clubs, in denen wir uns am Wochenende vergnügten, er war mehr so der Kneipentyp. „Alles klar. Ihr kommt aber später noch mit rutschen, okay?“. „Natürlich, Diggie!“. Die Rutsche war so eine Kneipe – verrucht, verraucht, leicht klebrig und puffnah. Zwischenzeitig besuchten wir Biggie immer in der Rutsche und auch, wenn der Zeitgeist hier irgendwann Anfang der 70er stehengeblieben war – es war niemals ungemütlich. Und: Biggie zahlte. Bar. Und ausschließlich münziös.

„Biggie, machst‘ nochmal zwei Runden?“. „Klar! Muss aber kurz noch … arbeiten gehen. TAXI!“. Ein idealer Zeitpunkt für Hansen und mich, die Verfolgung aufzunehmen. Wir nahmen uns ebenfalls ein Taxi und verfolgten Diggie in die nächste Spielothek. Spielothek? Der holt sich sein Kleingeld aus Spielautomaten? Vor der Scheibe stehend beobachteten wir Diggies Bezugsverhalten. Er spielte, notierte sich etwas auf einem Zettel, verschwand kurz, kam zurück und … kassierte. Hansen guckte mich an, als ob auf meiner Stirn der Name des Architekturteams der Sphinx von Gizeh stünde. „Wie…?“. „Weiß ich auch nicht, Alter. Aber lass‘ zurück in die Rutsche.“.

Das war der letzte Abend, an dem wir Biggie sahen. Die Wohnung blieb laut Vermieter so teilmöbliert wie zuvor, aber von Biggie hat niemals wieder jemand etwas gehört. Ich halte die Absenz eines intakten Mobilfunknetzes auf dem Mars für den Beweggrund.

Kommentare

19 Antworten zu “Die Biggie Schütt Ballade”

  1. Jerry B. Anderson (tm) sagt:

    Da ich ein Teich-Teilnehmer war weiß ich wohl,
    wer der Sun war. Zum Rutschen wär ich auch
    gern mitgegangen aber ich blieb ja immer
    mit Spate oder Anny im Club hängen.
    smarte old times

  2. der.grob sagt:

    ich habe mal gelesen, dass alle marsianer werner-tätowierungen haben. ich war einmal kurz davor, mir auch so eine tätowierung verpassen zu lassen. damit man mich für einen marsianer hält. alberne idee, ich weiß. ich sehe eher aus wie mork vom ork.

  3. doch doch, werter Herr Winkel, so einem Biggi bin ich auch schon begegnet…
    höchst seltsame Gestalten…
    ich muß los, mein taxi wartet…

    w

  4. soeren sagt:

    Eine solche Wohnung hatte ich auch mal. Weniger mangels Geld denn vielmehr mangels an Zeit, um selbige dort zu verbringen, was den Anspruch an die Wohnstätte stark herunterschraubte.

    Wenn ich mich recht erinnere, müsste mein gesamtes Mobilar von damals noch im zweiten Badezimmerschrank unten rechts zu finden sein … ich schau‘ mal eben nach.

  5. Looka sagt:

    Freigeister. Marsianer. Zähler. Nerds.

    Dank meiner Couch kann ich mich wohl nicht mehr zu ihnen zählen. Dafür steht mein Mountainbike im Schlafzimmer. In der alten Wohnung diente eine Vorhangstange schräg durchs Zimmer als Kleiderschrank. Allerdings habe ich die in die Wand gerammt und Leiter hatte ich auch keine.

    Kann inspirieren. Wenn man sich tagelang im Zimmer einsperrt. Kein Kontakt zur Außenwelt. Nur verbunden mit 700 Leuten im Internet. Auf dem Boden sitzen, den matt leuchtenden Bildschirm anstarren. Der Cursor blinkt. Orange auf schwarzem Grund. Zaghaft kommen die ersten Worte und dann geht es immer schneller. Der Flow beginnt. Eiskaltes Wasser. Hartes Brot und Lieferpizza.

    Die Münzen liegen verstreut über den zweiten Schreibtisch und am Boden. Jedoch nicht aus den Automaten, sondern Wechselgeld. Angeblich soll man das in rosa Schweine stecken und es zum Weltpartag den Schweinen in Anzügen überreichen.

    Frage mich, wann ich mal wieder raus komme. Um die Welt zu sehen und zu feiern.

  6. Herr Jeh sagt:

    Das ist ja alles ganz lustig, aber wie zur Hölle kommst du ausgerechnet auf Merseburg, meine bielefeldtöse Nachbarstadt?

  7. Erdge Schoss sagt:

    Es ist, werter Herr Winkelsen,

    nicht unwahrscheinlich, dass Herr Biggie über diese Münzspielautomaten mit zu Hause telefonierte und an jenem Abend eine sehr wichtige Nachricht erhielt.

    Rein interessehalber: Können Sie den Automaten beschreiben?

    Herzlich
    Ihr Erdge Schoss

  8. Ronnie sagt:

    Ich als gebürtiger Merseburger fühle mich geehrt.

    Sie glauben gar nicht, was es noch so in Merseburg gibt.

  9. juf sagt:

    Ich habe ja sieben fernseherlose Fernbedienungen.

  10. keine sorge, da hat biggie einfach mal das falsche taxie genommen und der fahre hat keine uschi im auto, die ihm den weg zum mars weisen konnte….. also alles im grünen bereich!

  11. frauenzimmer sagt:

    auf dem Zettel stand sicher : Kohle rüber und cool bleiben

    Vermutlich hatte die Kassiererin ihn DIESMAL mit ner Wumme erwartet

  12. steuertusse sagt:

    ich habe eher mit einem Marsianer gerechnet, der den Spruch: „Ey , haste mal ne Mark“ gekonnt in Szene setzt.
    *g*

    Bei mir in einer Schule gabs so eine Marsianerin, die sich stehts in Ihrer Freizeit auf der Domplatte aufhielt, um Ihr Taschengeld aufzubessern.

  13. danimateur sagt:

    mars, werter herr winkelsen, mars ziehe ich dem snickers ja immer noch vor, aber dort herkommen. da ist die schwäbische region ja noch lebendiger.

    ach ja, biggie wohnt jetzt in köln, heute morgen erst begegnet.

  14. MC Winkel sagt:

    @Jerry B. Anderson ™: Hättest mal mitkommen sollen, Jerrson! Gab immer noch gut einen in den Turm! :)
    @der.grob: Skryptol, Herr grob?
    @w.i.t.h. Shirley: Schönen Gruß!
    @soeren: Kann aber auch praktisch sein, oder? So erspart man sich die Dörte. Zum Beispiel.
    @Looka: Kommense mal wieder in den Norden, Herr Looka. Dann nehme ich Sie mit!
    @Herr Jeh: Weiß nicht, Merseburg erscheint mir irgendwie so … bizarr.
    @Erdge Schoss: Halbrund, Herr Schoss. So obenherum.
    @Ronnie: Na was denn, Ronsen?!
    @juf: Verrückt!
    @little-wombat: Und ich hatte schon Angst!
    @frauenzimmer: Naja, um es nochmal deutlich zu sagen: Biggie war ein Spielautomaten-Trickbetrüger. Es war seinerzeit tatsächlich möglich, mit entsprechenden Programmen einen Algorhythmus auszumachen, um zu wissen, wann das „Hochdrücken“ erfolgreich sein würde und wann man es zu lassen hätte. Aber das kam alles erst später heraus…
    @steuertusse: Ehrenwerte Sache!
    @danimateur: Ich hörte, er ist jetzt Köbes?

  15. Wie? Der Kerl ist einfach verschwunden? Wie unheimlich! Das schlimmste muss aber das Werner-Tatto gewesen sein. Wer macht sich denn so einen Schiet auf die Haut?

    Gruselnd,
    Ihre Frau Ährenwort

  16. Ronnie sagt:

    @ McWinkel: Ich schreib’s auf einem Zettel. ;-)

  17. danimateur sagt:

    herr winkelsen, sie wissen wirklich einiges. aber die entsprechende der 26 sorten können sie mir sicher nicht auch noch verraten. er lief privat gekleidet an mir vorüber.

  18. Johanna sagt:

    Nur: Was wollte er denn auf dem Mars kaufen mit dem ganzen Kleingeld?!

  19. Zarkay sagt:

    Dann feiert man auf dem Mars den Towel Day am 11. Mai… interesting. Hierzulande ist dies zwar der Todestag von Douglas Adams, seine Anhänger gedenken seiner jedoch am 25. Mai. *klugscheiss*

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