Theater oder Realität? Alan Watts über die größte Illusion des Lebens
Alan Watts, der britische Philosoph und Meister der östlichen Weisheitslehren, verstand es wie kaum ein anderer, komplexe spirituelle Ideen greifbar zu machen. In einem seiner bekanntesten Vorträge erklärt er, dass unser Leben nichts anderes ist als ein großes Theaterstück. Wir sind Schauspieler, die ihre Rolle so gut spielen, dass sie vergessen haben, dass es überhaupt eine Rolle ist. Genau hier beginnt für Alan Watts die größte Illusion des Lebens.
Das Leben als Bühne
Alan Watts greift das Bild des Theaters auf. Das Publikum weiß, dass es sich um eine Inszenierung handelt, dennoch lässt es sich berühren. Ein großartiger Schauspieler ist in der Lage, uns weinen, lachen oder zittern zu lassen, obwohl wir rational wissen, dass es nicht „echt“ ist. Genauso, so Watts, verhält es sich mit unserem eigenen Dasein.
Wir treten auf die Bühne des Lebens, verkleiden uns mit Identitäten, Berufen, Rollen und Geschichten. Wir vergessen dabei, dass hinter der Maske etwas Tieferes existiert: das eigentliche Selbst. Doch wir sind so überzeugend in unserem Spiel, dass wir uns selbst täuschen.
Die Maske des „Ichs“
Das Wort „Person“ stammt vom lateinischen „persona“ – die Maske des Schauspielers. Ursprünglich bedeutete es „durch den Klang hindurch“, weil die Maske die Stimme verstärkte. Heute verwenden wir „Person“ als Synonym für unsere Identität. Doch Watts erinnert uns: Das „Ich“, das wir im Alltag verteidigen, ist nur eine Rolle.
Die Illusion besteht darin, die Maske mit der Wahrheit zu verwechseln. Wir halten uns für den Anwalt, den Angestellten, die Mutter, den Lehrer, den Reisenden – und übersehen, dass diese Rollen nur temporäre Verkleidungen sind.
Gut und Böse – das Spiel der Gegensätze
Jedes Drama lebt von Konflikten. Es braucht Helden und Schurken, Ordnung und Chaos. Ohne Spannung gäbe es keine Geschichte. Watts deutet dies als Hinweis auf den Sinn des Lebens: Wir brauchen die Gegensätze, um überhaupt ein Spiel zu haben.
Wäre alles nur gut, gäbe es keine Bewegung. Wäre alles im Gleichgewicht, wäre es langweilig. Erst wenn es so aussieht, als würde das Gute verlieren, entfaltet sich Spannung. Am Ende aber, wie auf der Theaterbühne, treten Held und Bösewicht gemeinsam vor den Vorhang – und beide werden beklatscht.
Alan Watts x Illusion des Lebens – Der „Hintergedanke“
Watts verweist auf eine feine Ahnung, die viele Menschen kennen: den „Hintergedanken“. Tief in uns gibt es die vage Vermutung, dass wir mehr sind als das kleine „Ich“, das wir im Alltag verkörpern. Dieser Gedanke ist schwer greifbar, weil er die Illusion bedroht. Aber er erinnert uns daran, dass hinter der Bühne noch etwas anderes existiert – das eigentliche Selbst.
Hinduistische Leela – das göttliche Spiel
In der hinduistischen Philosophie wird die Welt als „Leela“ beschrieben: das göttliche Spiel. Das Universum ist keine ernste Prüfung, sondern ein Tanz des Göttlichen mit sich selbst. Das Göttliche spielt Rollen – manchmal als Mensch, manchmal als Tier, manchmal als Gott – und verliert sich bewusst in diesem Spiel.
Ein Christ mag sagen: „Ich bin ich, getrennt von Gott.“ Der Hindu jedoch meint: „Ich bin Atman, das Selbst – und identisch mit Brahman, der Quelle allen Seins.“ Für Watts sind beide Perspektiven Teil des Spiels. Selbst wenn jemand zutiefst an die Trennung glaubt, ist das immer noch eine großartige Rolle im kosmischen Theater.
Alan Watts – Die größte Illusion
Die größte Illusion im Leben ist also die Überzeugung, wir seien nichts weiter als die Rolle, die wir gerade spielen. Wir glauben, wir seien nur ein kleines Wesen, ausgeliefert an Schicksal und Zufall. In Wahrheit aber sind wir der Schauspieler hinter der Maske – das göttliche Bewusstsein selbst, das sein eigenes Spiel so gut spielt, dass es sich dabei vergisst.
Fazit | tl;dr
Alan Watts lädt uns ein, die Masken zu durchschauen. Nicht, um sie abzulegen, sondern um das Spiel bewusster zu genießen. Wenn wir erkennen, dass wir mehr sind als unsere Rollen, können wir mit Leichtigkeit durch die Dramen des Lebens gehen. Wir spielen weiter, aber wir wissen nun, dass wir Schauspieler in einem göttlichen Theater sind – und genau darin liegt die Freiheit.


