Warum Kassettentapes wirklich zurückkommen – und was sie über uns verraten
Wer hätte gedacht, dass das Rattern, Spulen und magnetische Rauschen der Kassette wieder Kultstatus erlangen würde? Die Verkaufszahlen sind auf dem höchsten Stand seit zwanzig Jahren. Künstler releasen ihre Alben wieder auf Tape, Sammler zahlen bis zu 30 Euro pro Exemplar. Was zunächst nach Nostalgie klingt, entpuppt sich – wie Brandon Shaw in seiner Serie Mixtape zeigt – als tiefere Bewegung.
Kassetten sind mehr als ein Vintage-Hype. Sie erinnern an eine Zeit, in der Musik noch greifbar war. Eine Zeit, in der man sich bewusst entschied, was man hört. Während Streaming uns in endlosen Playlists verliert, zwingt uns das Tape zu Entschleunigung und Fokus. Man hört ein Album – und zwar ganz. Kein Algorithmus, keine Skip-Taste, kein Autoplay.
Warum Kassettentapes zurückkommen & Wie das Tape die Musikwelt revolutionierte
In den 1970ern war die Kassette ein Befreiungsschlag. Zum ersten Mal konnten Menschen Musik aufnehmen, vervielfältigen und mit anderen teilen – ohne Plattenlabel oder Vertriebsstrukturen. Besonders Hip-Hop verdankt der Kassette seine Geburt.
DJ Kool Herc und andere Pioniere nahmen ihre Live-Sets auf Tape auf, kopierten sie und verkauften sie weiter. So verbreitete sich eine neue Kultur von Blockparty zu Blockparty – weit bevor Radiosender sie akzeptierten. Die Mixtapes wurden zum Sprachrohr einer Bewegung, die jenseits kommerzieller Kontrolle stattfand.
Auch in anderen Teilen der Welt war das Tape eine stille Revolution. In China gelangten in den 1980ern Abermillionen sogenannter Dakou-Tapes ins Land – ausrangierte westliche Kassetten mit einem Schnitt im Gehäuse. Eigentlich Schrott, doch Bastler reparierten sie, spulten die Magnetbänder neu ein und entdeckten dadurch Musik aus aller Welt. Diese dekontextualisierten Klänge führten zu einer einzigartigen Szene, in der Country und Metal plötzlich zusammenfanden. Das Tape machte Musik universell – und unzensierbar.
Der Sprung in die Moderne: Vom Straßenmix zum Kunstwerk
In der zweiten Folge der Serie führt Shaw das Prinzip weiter. Er trifft DJ Green Lantern, eine Legende der Mixtape-Ära der 2000er. Was einst als Mitschnitt begann, wurde unter seinen Händen zur Kunstform. Mit Vierspurrecordern schichtete er Vocals, Beats und Effekte übereinander, schuf Übergänge, Skits und ganze Erzählungen.
Mixtapes waren keine reinen Compilations mehr, sondern Klangkollagen – akustische Welten zwischen Dokumentation und Fiktion. Diese kreative Freiheit machte DJs zu Produzenten und Produzenten zu Erzählern. Doch mit der Zeit verwässerte der Begriff. Labels begannen, reguläre Alben als „Mixtapes“ zu vermarkten, um Erwartungsdruck zu umgehen. Trotzdem bleibt der Kern derselbe: das Mischen, Neudenken, Rekontextualisieren. Das Mixtape ist ein Statement gegen das Glatte und Perfekte. Es feiert das Unfertige – das Menschliche.
Bing Crosby, Magnetband und der Bruch mit der Realität
Parallel dazu erzählt die Serie eine fast vergessene Geschichte. Sie beginnt in den 1930ern mit Bing Crosby, dem wohl ersten globalen Superstar. Er wollte seine Radioshows nicht mehr live senden, sondern vorproduzieren. Doch erst als der Ingenieur Jack Mullin nach dem Zweiten Weltkrieg deutsche Magnetband-Technik in die USA brachte, wurde das möglich.
Crosby nutzte das neue Medium nicht nur, um Sendungen aufzuzeichnen, sondern um sie zu perfektionieren. Fehler wurden herausgeschnitten, Lacher eingefügt, Dialoge neu zusammengesetzt. Die Grenze zwischen Echtzeit und Inszenierung begann zu verschwimmen – ein Vorläufer unserer heutigen Medienrealität. Was damals als technische Errungenschaft galt, war in Wahrheit der Moment, in dem Realität erstmals editierbar wurde. Von dort führt eine direkte Linie zu modernen Sampling-Methoden, digitalen Mixtapes und – ja – zu generativer KI.
Vom Aufnehmen zum Erschaffen – und wieder zurück
Rapper Lupe Fiasco kündigte kürzlich ein Projekt namens Endless Loop an: ein 24-Stunden-Radiofeed, gespeist von einer KI, die in seinem Stil neue Songs generiert – jeder nur ein einziges Mal hörbar. Damit schließt sich der Kreis: Was als Versuch begann, flüchtige Musik festzuhalten, ist heute zur algorithmischen Dauerproduktion geworden.
Brandon Shaw zieht daraus eine poetische Schlussfolgerung: Technologie spiegelt unsere Sehnsucht, festzuhalten, wer wir sind. Ob auf Magnetband, Vinyl oder Cloud – wir suchen nach einem Medium, das unsere Menschlichkeit konserviert. Vielleicht greifen deshalb wieder so viele zur Kassette. In einer Welt, in der alles sofort verfügbar ist, fühlt sich ein Tape wie ein Stück Gegenwart an, das man wirklich besitzen kann. Dreißig Minuten Wirklichkeit – handgemacht, begrenzt, echt.